Es darf nie einen Schlussstrich geben

Gastbeitrag von Daniel Fetzer (2015)

“Der Holocaust ist 70 Jahre her, du bist erst 23 Jahre alt. Du trägst doch keine Verantwortung!” Nicht ganz falsch, was meine norwegischen Freunde da behaupten; ich habe tatsächlich nie jemanden ermordet, verraten und auch keine Nachbarländer überfallen. Warum ich trotzdem überzeugt davon bin, dass auch meine Generation keinen Schlussstrich ziehen darf.

Des Gedenkens müde

Auch Deutsche argumentieren ja  ganz gerne so. “Ich kann doch nichts dafür, was damals war”; “Irgendwann muss mal gut sein mit Verantwortung”, klar, wir sind jetzt wieder stolz auf unser Land, sind ja auch Weltmeister! Aber dann geht es weiter: die AfD möchte den Geschichtsunterricht ändern, und 58% haben jetzt genug Verantwortung für die Verbrechen der Nazis getragen: Sie sind des Gedenkens müde.

Dagegen spricht…

  • “Wir haben doch Grund, stolz zu sein! In Stuttgart wurde das Auto erfunden!” – Das ist 125 Jahre her. Der 2. Weltkrieg endete vor 70. Vor 110 Jahren probten unsere Vorfahren schon mal einen Völkermord. Einer Nation, die in ihrer Geschichte Krieg geführt hat, die auf eine Kolonialvergangenheit zurückschaut, steht keine weiße Weste zu. Der Blick auf die Geschichte hat beides in den Blick zu nehmen; Glanzlichter und Gräueltaten.
  • In jedem Land, dass von der Wehrmacht überfallen wurde, finden sich Familien, deren Angehörige ermordet wurden. Nahezu jede jüdische Familie hat Opfer der Shoa zu beklagen. Wir leiden nicht, sie leiden. Wieso meinen aber wir, uns anmaßen zu dürfen, wann es endlich gut sein muss mit dem Erinnertwerden?
  • Rechte Parteien und rechte Hetze haben Aufwind. Wieder wird pauschal über Menschengruppen gesprochen, über die Muslime, die Russen, die Flüchtlinge, die Hartzer, die Banker, die Griechen. Einfache Feindbilder erfüllen den einfachen Zweck, die eigenen Reihen zu schließen. Pegida weiß das, die AfD weiß das auch, und die CSU zeigt sich als gute Schülerin. Auch plumpe Kapitalismus- oder Politikerkritik spielt lieber mit einfachen Schwarz-Weiß-Mustern, statt sich der Komplexität der Realität zu stellen. Wir lernen doch aus der Geschichte, dass Angst ein schlechter Berater ist, und durch welches Ventil sich geschürter Hass entladen kann. Hallo Lichtenhagen, hallo Freital.

Deshalb…

  • dürfen wir uns an den Leistungen unseres Landes freuen, wer das braucht, der darf von mir aus auch ein bisschen stolz sein. Aber niemals dürfen wir dabei einseitig werden, vergessen, wozu unsere Ahnen fähig waren. Und niemals dürfen wir sagen: “Jetzt ist genug erinnert”, diesen Schlag ins Gesicht der Opfer und ihrer Nachfahren.
  • müssen wir schlaue Schlüsse ziehen und uns Menschenhass mutig entgegenstellen. Das gilt nicht nur für den schwelenden Hass auf Menschen mit ausländischer Herkunft, das gilt auch dort, wo Menschen auf ihre Leistungsfähigkeit und ihren wirtschaftlichen Wert reduziert werden. Auch das lehrt uns die Geschichte.
  • wünsche ich mir ein Land, das sich der Großzügigkeit erinnert, die es erfahren hat. Und im selben Maß großzügig ist. Gerade gegenüber den Griechen und den geflüchteten Menschen.

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